Alone – Draußen schlafen in der Wildnis

In den Rauhnächten habe ich wieder eine Nacht alleine bei Minusgraden in meinem selbst gebauten Shelter in dem abgelegenen kleinen Wildnis-Gelände Ronscht in Rheinhessen geschlafen. Es war diesmal mit viel weniger Ängsten verbunden, als beim ersten Mal vor einem Jahr. Es lohnt sich, herausfordernde Dinge mehrfach zu machen. Ich durfte wieder viel über mich und die Ronscht-Wildnis lernen – diesen für mich seit meiner Kindheit besonderen und verwunschenen Ort fast unberührter Natur. Über mir hat sich die Weite des klaren Wintersternenhimmels geöffnet. Ich habe die Füchse bellen gehört und meine Jäger- und Sammlerseele gespürt, mit ihren uralten Ängsten vor der Dunkelheit. Ich habe meine inneren Prozesse im Spiegel der Natur erkannt und voller Dankbarkeit, tiefer Freude und Neugier Botschaften aus der Natur empfangen.

Die Kraft der Wiederholung

Wenn man Dinge mehrfach tut, fallen sie einem leichter. Beim letzten Mal hatte ich viele Ängste vor meiner Solo-Übernachtung in der Ronscht. Dieses Mal war es unaufgeregter, aber nicht weniger spannend. Ich lerne wieder viel über mich, meine alte Jäger- und Sammlerseele und dieses unberührte Fleckchen Wildnis.

Wer nicht frieren will, muss sich gut vorbereiten

Laubhütte undicht

Nachmittags bringe ich meine Laubhütte vom letzten Jahr in Ordnung. Sie steht immer noch ganz wunderbar, auch das Trapperbett ist noch in Ordnung. Ein Blick nach drinnen verrät aber, dass sie nicht mehr ganz dicht ist – überall scheint Licht durch. Ich fülle das Innere nochmal mit Laub und dichte auch von außen mit Laub und Rinde ab.

Natur als Spiegel unserer inneren Landschaften

Dann mache ich einen Rundgang durchs Gelände. Alles ist stark zugewachsen. Ich schlage mich durch einen mannshohen Brennnessel-Wald. Plötzlich stehe ich vor einem kleinen Rotschwanznest in einem kleinen Bäumchen. Es ist ganz nah und genau auf Sichthöhe. In solchen Momenten habe ich das Gefühl, die Natur spricht mit mir. Ich erkenne meine inneren Seelenlandschaften und Botschaften aus meinem Inneren im Spiegel der Natur. Dieses Phänomen lässt sich mit dem Prinzip der selektiven Wahrnehmung erklären, wonach sich meine Wahrnehmung auf das richtet und das sieht, was mich gerade beschäftigt. Das Nest ist für mich heute ein Zeichen für Sicherheit und das Gefühl, zu Hause zu sein – hier Draußen und in mir drin.

Ortskenntnis durch Fährtenlesen und Herumstromern

Ich laufe ziellos weiter, querfeldein und lasse mich von meiner Aufmerksamkeit und Neugier lenken. Ich stoße auf aufgewühlten Boden, versuche die Spuren zu lesen. Ich sehe einen Wildwechsel und ein Stück weiter eine ähnliche aufgewühlte Stelle. Ich entdecke Hufabdrücke und angeknabberte Bäumchen. Es sieht danach aus, als ob ein Rehbock hier sein Revier markiert hat. Rehe markieren ihr Revier mit Duftnoten beim sogenannten Plätzen. Dabei schlagen sie den Boden mit den Vorderhufen auf und setzen Duftmarken mit dem Duftdrüsen in den Hufen. Oft werden beim Reviermarkieren auch junge Bäumchen, wie hier, mit dem Gehörn bearbeitet, um mit den dort sitzenden Duftdrüsen weitere Reviermarken zu setzen. Spannend – das im Winter, obwohl die Paarungszeit erst im Frühjahr beginnt. Ich folge weiter den Wildwechseln durch das Dickicht. Die wildnispädagogische Kernroutine des ziellosen Herumstromerns hat eine ganze Reihe an Effekten, die die Verbindung zur Natur und uns selbst stärken. Sie fördert eine spielerische Leichtigkeit und die Verbundenheit zu einem bestimmten Ort (Ortskenntnis). Gleichzeitig lehrt sie uns, unserer inneren Stimme zu folgen. Auch das Fährtenlesen führt zu einer tieferen Verbindung zur Natur und einem bestimmten Ort – wir können entdecken, mit wem wir uns diesen Ort teilen und was diese Lebewesen hier machen: Wer wohnt hier, was macht er hier und zu welcher Jahres- und Uhrzeit?

Die eigene Komfortzone verlassen

Abends merke ich, wie sich Bequemlichkeit breit machen will. Da sind innere Widerstände und die Frage taucht auf, ob es nicht auch sehr gemütlich in einem warmen Bett wäre und ob eine Übernachtung draußen bei Minusgraden wirklich sein muss. Es ist spannend zu schauen, was mich dazu bringt, es trotz der inneren Widerstände zu tun. Vermutlich das tiefe Wissen, dass Erfahrungen nur durch Tun entstehen und ich mich weiterentwickele, wenn ich meine Komfortzone verlasse. Betrachtet man die Menschheitsgeschichte kann man ebenfalls beobachten, dass sich der Homo Sapiens in der Eiszeit – einer Zeit mit großen Herausforderungen für das Überleben der Menschen – besonders weiterentwickelt hat. Große Herausforderungen rufen nach kreativen Lösungen und neuen Herangehensweisen. Daran können wir wachsen. Die Wildnispädagogik lädt dazu ein, immer wieder die eigene Komfortzone zu verlassen und die eigenen Grenzen zu verschieben. Und ich bemerke auch, dass mir der rituelle Rahmen – eine Solo-Nacht in den Rauhnächten als Ritual und Geschenk an mich selbst, als Zeit für Innenschau und Naturverbindung – hilft, Widerstände und Bequemlichkeit zu überwinden.

Begegnung mit den alten Ängsten unserer Vorfahren vor der Dunkelheit

An meiner Hütte am Feuer genieße ich den sternenklaren tiefschwarzen Nachthimmel. Der Mond ist noch nicht aufgegangen. Ich sehe das Feuer. Um mich herum ist es stockdunkel. Ich spüre die Ängste unserer Vorfahren vor dem, was im nicht Sichtbaren, in der Dunkelheit lauern könnte. Die Angst vor dem Unbekannten. Jedes Knacken und Geräusch regt meine Fantasie an. Ich kann diese Ängste gut halten – ich spüre, dass es unsere alten Jäger- und Sammlerängste sind – und dass diese Wachsamkeit das Überleben von uns Menschen gesichert hat. 

Vertrauen in das Licht des nächsten Tages

Nachts wache ich immer wieder auf. Ich höre Füchse bellen. Die Kälte ist kein Problem – meine Hütte und der Schlafsack halten die Wärme auch bei den Minusgraden gut. Dann sehe ich sich bewegende Lichter und bekomme Angst, ein Jäger könnte mich mit einem Reh verwechseln. Ich höre auch Geräusche. Kurz werde ich von Angst überwältigt und überlege abzubrechen. Doch dann spüre ich das tiefe Vertrauen in den kommenden Morgen und weiß, dass die Schreckgespenster in meinem Kopf in der Dämmerung wieder verschwunden sein werden. Es ist schön, dass zu spüren – denn letztlich ist es die Dezember-Energie, die unsere Vorfahren zur Wintersonnenwende gefeiert haben: Das Vertrauen in die Rückkehr des Lichts, des nächsten Tages, des Frühlings und des neuen Lebens.

Was ich von meinen Träumen lernen darf

Ich wache wieder auf und erinnere mich, dass es stark geregnet hat und ich meine Schuhe in den Shelter räumen musste. Doch dann merke ich, dass dies nur ein Traum war, der sich wie das echte Leben angefühlt hat. Ich erinnere mich, wie sehr geschützt ich mich in meinem Traum in meinem Shelter gefühlt habe und fühle mich sicher und geborgen.

Winterwunder – Schönheit und Staunen

Es dämmert und alles steht wunderschön verwunschen im Nebel. Die efeubewachsenen Bäume sehen wie uralte Gestalten aus. Als es heller wird, sehe ich dass alles von feinem Reif überzogen ist. Der Winter ist da. Die Äste haben lange feine Reif-Dornen und die indianische Clanmutter Weaves the Web und Großmutter Spinne, die mich in dem vergangenen Jahr so liebevoll und kraftvoll begleitet haben, verabschieden sich von mir mit hauchzarten, bereiften Spinnenfäden, die von den Ästen im Wind wehen. 

Unser uraltes Verhältnis zum Feuer

Es ist eisig kalt und ich bemerke den unwiderstehlichen Impuls meiner Jäger-und Sammler-Vorfahren, ein Feuer anzumachen, um mich zu wärmen.

Kraftorte

Beim Gehen verabschiede ich mich vom heiligen Walnuss-Baum mit den vielen Köpfen. Jedes Mal, wenn ich komme sind weitere Stämme umgestürzt. Bald wird nichts mehr von ihm übrig sein und ich bin gespannt, welcher Ort, welcher Stein, welcher Baum dann seinen Platz als Kraftort übernehmen wird. Zum Abschied grüßt mich die Krähe von der Clanmutter Weighs the Truth, die mich im kommenden Jahr begleiten wird.

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