Baum-Journal: Eibe – alte Mythen und persönliche Beziehung

Nature Journaling – Bäume

In meinem Naturtagebuch halte ich meine Beobachtungen und Gedanken zu Bäumen fest – im Fall der Eibe zu einer ganz bestimmten Eibe. Mit meinem Baum-Journal lasse ich die uralte Verbindung unserer Ahnen zu den Bäumen wieder aufleben. Bäume sind uralte Lebewesen, die uns ähnlicher sind, als wir denken. Bäume warten für uns Menschen seit Urzeiten Götter, Lehrerinnen und Heiligtümer. Wir können viel von ihnen lernen – über die Welt, über Verbindung und uns selbst.

„Meine“ Eibe habe ich ein Jahr lang genau beobachtet – wie sie blüht, ob sie Früchte und Zapfen bildet. Wer ihre Nachbarn sind. Wer sie bewohnt, wer sie besucht und Spuren auf ihrer Rinde hinterlässt. Ich habe diese Eibe immer wieder ganz bewusst aufgesucht – sie ist mir nun sehr vertraut – „meine“ Eibe. Wir kennen uns. Sie ist meine Lehrerin und hat eine Bedeutung für mich.

Nature Journaling ist eine der Kernroutinen der Wildnispädagogik. Gleichzeitig ist sie eine wichtige Praxis der Naturachtsamkeit. 

Beim Nature Journaling geht es nicht darum, besonders schöne Zeichnungen zu erstellen. Wir sind völlig frei darin, wie wir unser Naturtagebuch führen – mit Skizzen, Bildern, Worten oder auch Sammelstücken. Diese Freiheit sollten wir uns nehmen und uns frei von Erwartungsdruck und Konzepten von „Schön“ und „Wertvoll“ machen. Wichtig ist, dass wir unseren eigenen Weg und Ausdruck finden. Und wie bei jeder Praxis ist Regelmäßigkeit von entscheidender Bedeutung. Lieber weniger, aber häufiger. Beim Nature Journaling geht es um Naturverbindung, Verbindung zu uns selbst, Achtsamkeit, Neugier und Kreativität.

Wenn wir unsere Beobachtungen in Worte und Bilder fassen wollen, müssen wir uns Zeit nehmen und genau hinschauen. Das entschleunigt. In diesem Raum entstehen Fragen und Neugier. Wir kommen ins Erforschen und Entdecken. Weitere Fragen entstehen. Ich fange an, in Bestimmungsbüchern und Büchern über altes Pflanzenwissen nachzuforschen. Dadurch kann eine tiefe Verbindung zu den Lebewesen, Bäumen und Pflanzen entstehen. Im Fall meiner Eibe sogar zu einem ganz bestimmten Baumwesen.

Was macht die Eibe aus?

Die Eibe ist ein verhältnismäßig kleiner oft nur strauchartiger Baum mit einer Höhe bis zu 15 Metern. Im Alter ist sie oft mehrstämmig und stark verwachsen. Trotz ihrer geringen Größe ist sie in der Kultur der Menschen schon lange – etwa bei den Kelten, Germanen und Römern – ein mächtiger, alter Kulturbaum. Meist wird ihr eine eher düstere und unheimliche Bedeutung mit einer starken Verbindung zum Tod und zur Anderswelt, der Geisterwelt, zugeschrieben. Unzählig viele Geschichten, Mythen und Legenden ranken sich um diesen Baum. Kennst du auch welche?

Giftigkeit und Bogenholz

Ein Grund für die düstere Aura, die die Eibe umgibt, ist ihre Giftigkeit. Hierauf verweist auch der lateinische Name der Eibe Taxus baccata. Unter einem Toxikum versteht man ein Pfeilgift. Und genau so wurde das Gift der Eibe (Blätterabsud) früher auch verwendet. Bis auf den fleischigen Samenmantel der roten Scheinfrüchte sind alle Bestandteile der Eibe – Rinde, Nadeln und Kerne – hoch giftig (Alkaloid Taxin und Glykosid Taxicatin). Kleinste Mengen reichen für tödliche Vergiftungen, die zu Atemlähmung und Herzstillstand führen.

An warmen Tagen kann die Eibe psychoaktive Gase mit einer haluzinogenen Wirkung freisetzen. Bereits im Märchen Jorinde und Joringel von den Gebrüdern Grimm, in Shakespeares Romeo und Julia und alten Volksweisheiten wird von solchen Erfahrungen erzählt bzw. vor längeren Aufenthalten im Eibenhain gewarnt. Dies steht im Einklang mit der Bedeutung der Eibe als Schwellenbaum zur Anderswelt.

Das griechische Wort Toxon bedeutet Bogen. Das harte, aber sehr flexible Holz ist seit der Steinzeit als Bogen- und Speerholz beliebt und wurde schon von den Neanderthalern verwendet. Die hohe Nachfrage, etwa für englische Langbögen, und Übernutzung wird als Grund genannt, warum die Eibe auf der roten Liste für bedrohte Arten steht. Bei den Bauern wurde sie zum Teil auch aufgrund ihrer Giftigkeit für das Vieh gefällt.

Schwellenbaum – Leben und Tod

Die Kelten glaubten, dass die langsam wachsende Eibe, das langlebigste Lebewesen der Welt sei. Es wird vermutet, dass einige Bäume mehrere Tausend Jahre alt sind. Die Eibe ist in ihrer spirituellen Bedeutung für die Kelten und Germanen ein mächtiger Schwellenbaum – an der Schwelle vom Leben zum Tod, von der sichtbaren Welt zur nicht sichtbaren Anderswelt. Der keltische Name „ivo“, „ivos“ oder „ibar“ könnte mit dem alten Wort „ewa“ oder „ewig“ verwandt sein. Nach alten Mythen öffnet die Eibe die Pforte zur Ewigkeit, indem sie den Lebenskreislauf von Entstehen und Vergehen, von Raum und Zeit durchbricht.

„Raum und Zeit sind die Bedingungen der menschlichen Identität und Wahrnehmung. (…) Sobald die Seele aber den Körper verlässt, steht sie nicht mehr unter der zweifachen Bedingung von Raum und Zeit. Die Seele ist frei da zu sein, wo immer sie zu sein wünscht.“

John O’Donohue, Anam Caram

Die Eibe ist ein Symbol für den Tod und die Ewigkeit. Dies ist der Grund, warum sie heute noch häufig rund um Friedhöfe – so in meiner Nachbarschaft um den Waldfriedhof in Köln-Dellbrück – anzutreffen ist. Die Eibe gilt als einer der heiligsten Druidenbäume. Zauberstäbe der keltischen Druiden und magische Schutzamulette sollen aus Eibenholz hergestellt worden sein. Es wird vermutet, dass der Weltenbaum Yggdrasil aus der germanischen Mythenwelt nicht eine Esche, sondern immergrüne Eibe ist. Bei den Kelten war die Eibe der Todesgöttin Morrígan gewidmet, deren dunkle Zeit mit dem keltischen Jahreskreisfest Samhain – heute Halloween – im Oktober beginnt. Zu Samhain sollen die Schleier zur Anderswelt besonders dünn sein. Die Geister können leichter in unsere Welt kommen und auch wir haben leichteren Zugang zur nicht sichtbaren Welt. Mit dem Tod des Lebens im Herbst beginnt die Zeit der Erneuerung im Verborgenen der Erde. Aus dem Samen wird in der Dunkelheit neues Licht (Wintersonnenwende) und neues Leben geboren. Hierfür steht die Verbindung des keltischen Wald-Gottes Cernunnos, mit seinem Hirschgeweih, und der Göttin der Erde Ana oder Dana. Der Samen des Waldes spendet Leben auf der Erde. Die dunkle Seite der Eibe, der Tod, ist damit als Ausdruck von Ganzheit auch mit dem Neubeginn, der Wiedergeburt des Lichtes und Leben verbunden.

Was bedeutet die Eibe für mich? Was lehrt mich meine Eibe?

Ich habe meine Eibe in unserem Garten erst spät – nach ein paar Jahren – entdeckt und wirklich wahrgenommen. Sie war zunächst versteckt zwischen einigen Fichten. Die Fichten haben die heißen, trockenen Sommer (2018, 2019 und 2020) nicht überlebt. Aber meine Eibe hat tiefe Wurzeln. Sie hat diese Zeit völlig unbeschadet überstanden. Die Eibe steht im Schatten der großen Bäume – Kirsche, Götterbaum und Tanne. Das stört sie nicht. Die Eibe muss nicht im Mittelpunkt stehen. Sie lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Langsam wächst sie und trotzt schwierigen Bedingungen. Sie ist eine gute Lehrerin in Durchsetzungsfähigkeit, Gelassenheit und Bescheidenheit. Sie lehrt mich, wie wichtig es ist, gut verwurzelt zu sein, damit man sich sicher fühlen kann und Halt in schwierigen Phasen hat. Tiefe Wurzeln machen uns resilient, so dass man sich nach Zeiten der Dürre und des Mangels wieder erholen kann.

Ich mag die spirituelle Bedeutung der Eibe als Schwellenbaum zwischen Leben und Tod, sichtbarer und nicht sichtbarer Welt. Sie ist für mich ein Symbol für die Vergänglichkeit. Nach den Buddhisten ist die Vergänglichkeit oder Veränderlichkeit – Anicca – eines der drei Merkmale, die unser Dasein auf dieser Welt prägen. Es lohnt sich, sich immer mal wieder zu vergegenwärtigen, dass alles im Leben entsteht und vergeht. Das kann sensibel machen für die Kostbarkeit des Lebens, des Moments, einer Beziehung oder Begegnung mit einem geliebten Lebewesen. Es motiviert mich, meine Zeit für die Dinge zu nutzen, die mir wirklich wichtig sind und nicht in Streit und Trennung zu bleiben.

Gleichzeitig steht die Eibe für mich für die tiefen Wurzeln und guten Ressourcen, die man manchmal braucht, um den Schmerz und die Traurigkeit halten zu können, die beim Abschied nehmen entstehen kann. Die Eibe ist für mich eine tröstliche Erinnerung an den ewigen Kreislauf von Entstehen und Vergehen (siehe hierzu auch: Keltischer Jahreskreis – Ein europäisches Medizinrad), daran, dass sich nach dem Tod etwas Anderes auftut. Die Physik lehrt uns, dass nichts für immer verschwindet. Alles wird nur zu etwas Anderem. Das gilt auch für uns. Vielleicht hat der Tod neben all dem Schmerzhaften auch etwas Befreiendes, wenn wir nicht mehr an Raum und Zeit gebunden sind. Vielleicht ist es dann vorbei mit dem Schmerz, der durch das Raumempfinden und das damit verbundene Gefühl der Trennung entstehen kann – ich bin Anne, ich bin allein in meinem Körper, mit meiner Wahrnehmung, auf meinem Anne-Planeten. Und auch mit dem Schmerz aufgrund unseres Zeitempfindens, dass alles wieder vergeht und nichts für immer ist – auch schöne Momente, Beziehungen, körperliche Kraft mit dem Altern. Die Eibe erinnert mich tröstlich daran, dass die Toten – in welcher Form auch immer – unter uns sind.

„Auf die Frage, wohin die Seele gehe, wenn der Mensch stirbt, antwortete Meister Eckhart: An keinen Ort. Wohin sonst könnte die Seele gehen? Wo sonst wäre die ewige Welt? Sie kann nirgendwo sein als hier. Unser begriffliches Denken macht die ewige Welt fälschlicherweise zu etwas Räumlichem und rückt sie dann in unermessliche Ferne, wie irgendeine unbekannte Galaxie. Doch die ewige Welt scheint gar kein Ort, sondern vielmehr eine andere Seinsebene zu sein. Die Seele der Verstorbenen geht nirgendwohin, weil es gar keinen anderen Ort gibt, an den sie gehen könnte. Dies deutet darauf hin, dass die Toten hier bei uns sind, in der Luft, durch die wir uns ununterbrochen bewegen. Der einzige Unterschied zwischen uns und den Toten ist der, dass sie sich jetzt in einer unsichtbaren Form befinden. Wir können sie mit unserem menschlichen Auge nicht sehen, wohl aber können wir die Gegenwart jener Toten spüren, die wir zur Lebzeiten geliebt haben“
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John O’Donohue, Anam Caram

Die Eibe steht für mich für Ganzheit. Ich spüre Widerstand und Angst wegen ihrer Giftigkeit. Die Eibe kann mich lehren, auch mit unseren Schattenseiten und den zerstörerischen Kräften in Kontakt zu kommen. Auch diese Seiten sind Teile von uns Menschen. Es ist eine lebenslange Übung einen Umgang mit den Schatten zu finden. Und Zerstörung hat etwas kraftvoll Reinigendes. Die Eibe erinnert daran, dass manchmal erst etwas gehen muss, damit etwas Neues entstehen kann.

In den Monaten der intensiven Beobachtung und des Nature Journaling hat sich etwas verändert – ich sehe meine Eibe mit anderen Augen, mit den Augen meines Herzens. Ich spüre eine persönliche Verbundenheit mit diesem konkreten Baum. Meinen Drillbogen habe ich den alten Traditionen folgend aus dem Holz meiner Eibe gefertigt. Dieser Bogen bedeutet mir etwas.

Quellen

Young, Jon / Hass, Ellen / McGown, Evan: Coyote-Guide, Grundlagen der Wildnispädagogik; Hillgärtner, Verena: Nature Journaling; Storl, Wolf-Dieter: Unsere fünf heiligen Bäume, S. 143 ff.; Urbanovsky, Claudia / Le Scouezec, Gwenc’Hlan: Der Garten der Druiden, S. 325 ff.; Krämer, Claus: Mythen und Sagen der Kelten, S. 90; Das Buch der keltischen Mythen, Von Göttern, Kriegern, Feen und Druiden, S. 197.

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