Vorchristliche Wurzeln

Feste, an denen die gewohnte Ordnung einer Gesellschaft außer Kraft gesetzt wird und bestehende Verhältnisse umgekehrt werden, sind sehr alt und finden sich überall auf der Welt. Mächtige werden ohnmächtig – Unterdrückte übernehmen die Herrschaft, Frauen werden Männer – Männer werden Frauen, Starke werden schwach – Schwache stark. Hässliche werden schön – Schöne hässlich. Die bestehenden Regeln werden für kurze Zeit „verrückt“ und außer Kraft gesetzt. Die Ordnung der Welt spielt verrückt.
Bereits vor rund 5000 Jahren wurden in Mesopotamien Feste gefeiert, in denen für eine kurze Zeit die Bauern mit den Herrschern auf einer Stufe standen. Ob das Wort Fastnacht auf das vorchristliche Fest zur Wiedererweckung der Fruchtbarkeit, die Faselnacht, zurückgeht oder auf die am Aschermittwoch beginnende christliche Fasten-Zeit (Abend vor dem Fasten – mittelhochdeutsch Vastnaht), lässt sich nicht eindeutig klären. „Karneval“ könnte als carne vale – Abschied vom Fleisch ebenfalls einen Bezug zur christlichen Fastenzeit oder sogar bereits dem römischen Reinigungsfest Februa haben. Fest steht, dass sich an Karneval viele heidnische und christliche Bräuche vermischen.
Zugang zu anderen Welten

Das Gewohnte, der Norm entsprechende, verliert seine Gültigkeit. Die Welt außerhalb der Grenzen des Wahrnehmbaren wird sichtbar, spürbar und erlebbar. Eine verrückte Welt der Geister und alten Mächte. Die Perspektive auf das Gewohnte und Alltägliche verändert sich. Wer die Grenzen des Gewohnten überschreitet, nimmt Kontakt auf zu einer anderen Ebene des Bewusstseins, zur Anderswelt. Wir können in Verbindung kommen mit Mächten und Kräften, die es im alltäglichen Bewusstsein nicht gibt. Für eine kurze Zeit scheint alles denkbar, alles möglich.
Perspektiv-Wechsel

Masken und Verkleidungen spielen zur Fastnachts-Zeit eine zentrale Rolle. Jeder kann in eine andere Identität und Rolle schlüpfen und die Welt aus dieser Perspektive betrachten. Die Verkleidung kann dabei helfen. Mit einer Maske sind ganz neue und andere Erfahrungen möglich.
Wir können auf spielerische Art und Weise erfahren, dass es nicht die eine Identität gibt. So geht auch die buddhistische Lehre davon aus, dass es nicht die eine feststehende Identität, das eine feste Selbst gibt (Prinzip des Anatta – „Nicht-Selbst“). Nach dieser Vorstellung kann man das Selbst als Prozess verstehen, der wie alle anderen Lebewesen, Dinge und Phänomene ständiger Veränderung unterworfen ist (Prinzip des Anicca – Veränderlichkeit). Wir können das im Alltagsleben gut beobachten. Wir haben unterschiedliche Identitäten oder Rollen bei der Arbeit, als Tochter bzw. Sohn, als Eltern, als PartnerIn, als FreundIn, im Supermarkt, beim Arzt. Das kann man beliebig weiter denken. Wenn wir zu stark mit bestimmten Rollen identifiziert sind, kann uns das einengen, lähmen und schmerzhaft sein. Wenn wir beispielsweise Glaubenssätzen anhängen, wie: „Ich bin immer die, die…“ oder „ich bin nicht gut genug“ oder „ich muss, so sein oder dass machen“. In diesen Momenten kann uns das Konzept von Anatta helfen, uns aus einengenden Identitäten zu befreien. Wir dürfen uns klar machen, dass das nur Geschichten sind, die wir uns über uns selbst erzählen. Wir sind immer auch mehr und etwas anderes. Ich bin nicht nur die die Angst hat. Ich bin auch die, die mutig ist. An Karneval haben wir spielerisch und voller Leichtigkeit die Möglichkeit, nach außen sichtbar beengende Identitäten abzulegen und in die Rolle zu schlüpfen, die wir gerne wären.
Und unabhängig von begrenzenden Identitäten ist jeder Perspektiv-Wechsel auch mit Öffnung für andere Sichtweisen und Lernen verbunden. Wenn wir in eine andere Rolle schlüpfen, haben wir die Gelegenheit die Welt aus anderen Augen zu sehen. Es ist immer eine Bereicherung, sich vorzustellen, wie die Welt für einen anderen ist. Wie ist es Frau, ein Mann zu sein? Wie fühlt es sich an, ein Tier zu sein? Wie denkt ein Wolf?
Tiermasken – Verbindung zur Tierwelt

In vielen alten Kulturen spielen Tiermasken eine wichtige Rolle. Um in die Perspektive des Tieres zu schlüpfen, an der Kraft des Tieres teil zu haben und mit dessen spiritueller Ebene Kontakt aufzunehmen. Die Verbindung von Menschen und Tieren ist in allen naturreligiösen Vorstellungen eng. Die aufwändigen und sehr naturgetreuen Malereien der Steinzeitmenschen (siehe oben Höhle von Lascaux in Frankreich) zeigen fast ausschließlich Tiere. Die Germanen gingen davon aus, dass sich ein Teil der menschlichen Seele in einem Tiergeist verkörperte. Tiergeister und Totemtiere, die Menschen und ganze Clans beschützten und ihnen bestimmte Eigenschaften verliehen, gehörten zur Vorstellungswelt der amerikanischen Kulturen, aber auch der europäischen Völker. Tiere wurden als LehrerInnen angesehen, die bestimmte Kräfte oder eine bestimmte Weisheit (Tier-Medizin) vermittelten.

Verwandlungen von Menschen in Tiere sind unter anderem in der germanischen, der keltischen, der römischen, griechischen und ägyptischen Mythologie häufig zu finden. Und umgekehrt nahmen die Götter oft Tiergestalt an. Bei den Kelten ist der Mythos des Gestaltwandlers ein zentrales Element. Cernunnos der Gott der Erneuerung und Wiedergeburt trat beispielsweise häufig als Hirsch in Erscheinung. Das Abwerfen des Geweihs steht für die fortwährende Wiedergeburt. Kriegsgöttinnen konnten die Gestalt von Raben oder Krähen annehmen, um die Seelen der Toten fortzutragen. Auch in der mitteleuropäischen Märchenwelt, die vorchristliche Wurzeln hat, sind solche Verwandlungen häufig zu finden. Im Märchen von den sechs Schwänen werden die Königssöhne von der bösen Stiefmutter in sechs Schwäne verwandelt. In Schneeweißchen und Rosenrot ist der Königssohn in einen wilden Bären verwandelt. Der Bär steht für Kraft und Fruchtbarkeit. Er ist ein Sonnentier, ein Beschützer. Tiergestalten spielen in den Märchen häufig eine besondere Rolle, wie in dem Froschkönig, dem gestiefelten Kater oder der Wolf in Rotkäppchen. Wölfe stehen in vielen Kulturen für die Wachstums- und Lebenskraft. Die Begegnung von Rotkäppchen mit dem Wolf kann auch als Initiation in das Erwachsenen-Dasein gesehen werden. Sie kann für die Begegnung mit der wilden Lebenskraft und Befreiung aus engen Familienverhältnissen stehen.
Diese Geschichten zeigen die Verbundenheit und Neugier, die der Mensch immer schon gegenüber anderen Lebewesen hatte. Es kommt hier auch der Wunsch zu Ausdruck, die besonderen Kräfte anderer Spezies zu teilen. Seit altersher stellten Tier- und Dämonenmasken das Mittel dar, mit dem die jeweilige Tier-Energie gerufen und verkörpert wurden. An Karneval können wir uns an diese uralte Verbindung des Menschen mit den Tieren erinnern.
Raum für die wilde, ungezähmte Seite in uns

Fastnachts-Bräuche beschränken sich nicht nur darauf, mit wildem Treiben und Umzügen den Winter auszutreiben und das neue Leben zu erwecken. Im Rasen, Toben und Verrückt-Sein der Fastnacht fällt kurze Zeit die Grenze zwischen der Sicherheit unserer Zivilisation mit ihren gesellschaftlichen Normen und Rollen und unserer inneren, ungezähmten Wildnis. Wir werden wieder Teil jener großen Gemeinschaft von Lebewesen, zu der wir gehören. Das hat auch reinigende Aspekte für Seele und Gemeinschaft. Wir können uns daran erinnern, dass auch wir Tiere sind und in Kontakt kommen mit unserer wilden Tier-Seele, die durch und durch verbunden ist mit dieser Welt.
Diese Aspekte können wir uns zu Karneval vergegenwärtigen und uns Verkleiden, Tanzen, mit Identitäten spielen, die Perspektive wechseln und in Kontakt mit mehr als der sichtbaren Welt kommen.
Quellen
Kaiser, Martina, Der Jahreskreis; Storl, Wolf Dieter, Schamanentum, Die Wurzeln unserer Spiritualität; Anaconda, Das Buch der keltischen Mythen, Von Göttern, Kriegern, Feen und Druiden.