Um den 1. Mai ranken sich eine Reihe von Mythen und Feste mit vorchristlichen Wurzeln – so das keltische Fest Beltane und die germanische Walpurgisnacht. Es sind Mythen, die bis heute in vielen Bräuchen weiterleben. Das keltische Beltane, dass voller Lebenslust, Freude und Ausgelassenheit den Beginn des Sommers feiert, gehört im keltischen Jahreskreis zu den vier Mondfesten. Es kann auch am 5. Vollmond des Jahres festgemacht werden. Das nun beginnende Sommerhalbjahr wurde bei den Kelten Jahrestag genannt, während das zu Samhain beginnende Winterhalbjahr die Jahresnacht war.

Zeitqualität: Süd-Osten – Frühsommer

Im Jahreskreis beginnt nun der Frühsommer. Alles blüht nun auf. In der Natur wird dies durch blühende Weißdorn-, Holunder- und Wildrosenbüsche angezeigt (phänomenologische Zeigerpflanzen). Die ersten Mohnblüten blühen und die ersten Grillen zirpen. Im Mai blüht außerdem der Waldmeister, aus dem die bekannte Mai-Bowle hergestellt wird.
Von den Himmelsrichtungen befinden wir uns im Süd-Osten, im Tagesverlauf am Vormittag, der auf die heisseste Zeit am Tag, den Mittag zugeht. Im Leben eines Menschen kann man diese Zeit mit der Lebensphase eines jungen Erwachsenen von zwanzig bis Mitte dreißig gleichsetzen, der voller Kraft im Leben steht. Auch das Thema Fortpflanzung und Nachwuchs fällt in diese Lebensphase. Nach dem Neubeginn, der Geburt im Frühling, geht es im nun beginnenden Sommer um Wachstum und Entwicklung.
Die Themen des nun beginnenden Sommers sind Körperlichkeit, Körper, Gefühle, Sinnlichkeit, Genuss und Sexualität. Im beginnenden Sommer kann der Körper mit seinen Sinnen all die verschiedenen Gerüche, Geschmäcker, Texturen, Formen und Farben wahrnehmen. Es geht um die körperliche Empfindung dieser Welt. Der Archetyp der Liebhaberin und des Liebhabers ist dem Sommer, dem Süden zugeordnet und passt wunderbar zum Fest Beltane. Jetzt geht es um pure Lust am Leben, Liebe und Leidenschaft. Für unsere Instinkte und Emotionen ist der älteste Teil unseres Gehirns, das Stammhirn und das limbische System verantwortlich. Dieser Teil des Gehirns wird auch als „Survival-Brain“ bezeichnet. Denn hier sind die uralten Überlebensstrategien in Notsituationen – Verteidigung, Fliehen, Erstarren und Beschwichtigen (fight, flight, freeze und appease) – verortet. Im nun beginnenden Sommer geht es dementsprechend um das Ego, sein Wohlbefinden und sein Überleben.
Fruchtbarkeit und Heilige Hochzeit – Vereinigung und Ganzheit

Die jungfräuliche weiße Göttin des Frühlings wandelt sich zu Beltane zur fruchtbaren und sinnlichen roten Göttin der Fruchtbarkeit, Schönheit und Liebe – wie etwa die germanische Göttin Freya, die griechische Göttin Aphrodite oder die ihr entsprechende römische Göttin Venus.
Es gibt viele Mythen und Symbolik, die sich um die Heilige Hochzeit der Götter ranken. So etwa um den keltischen Gott Bel oder Belenus, der das Winter- und Frühlings-Bärenfell aus dem Märchen Schneeweißchen und Rosenrot nun ablegt. Nun kommt seine erwachsene feurige Sonnenkraft zum Vorschein. Damit verbindet er sich sich mit der Blumengöttin Belisama (anderer Name der keltischen Erd- und Muttergöttin Dana). Der Sonnenstrahl befruchtet die Erde im Liebesakt und bringt neues Leben hervor. Belenus wird auch als Namensgeber für das Fest Beltane ins Spiel gebracht. „Bel“ bedeutet strahlend, glänzend und „Tene“ oder „Teine“ steht für Feuer. Beltane ist also das Fest der strahlenden Sonne.
Im Germanischen ist die Götterhochzeit als Brautwerbung des Fruchtbarkeitsgottes Freyrs oder Odins bzw. Wotans um die Liebesgöttin Freya überliefert. Aber auch andere Kulturen kennen diese Symbolik. So ist etwa der griechische Fruchtbarkeitsgott Dionysos aus der Verbindung des himmlischen Göttervaters Zeus mit der Sterblichen Semele (Bedeutung des Namens: Erdenbewohnerin oder Erde) hervorgegangen.
Noch heute finden sich anknüpfend an das heilige Paar alte Bräuche um die Maikönigin und den Maikönig. Die Maikönigin wird in vielen Dörfern als Stellvertreterin für die Liebesgöttin gewählt. An manchen Orten wird sie auf die Felder herausgetragen, um dort für Fruchtbarkeit zu sorgen.
Bei der heiligen Hochzeit geht es um die Vereinigung von Himmel und Erde, von Männlichem – Yang, Himmel, Sonne, Licht, Aktivität, Kraft, Geist, Nehmen, Longing / Verlangen / Wollen – und Weiblichem – Yin, Erde, Mond, Dunkelheit, Ruhe, Gelassenheit, Körper, Erfahrung, Geben, Annehmen, Belonging / Angenommen, Gestillt, Genährt sein. Die Vereinigung dieser unterschiedlichen Qualitäten – von Männlichem und Weiblichem – ist fruchtbar und bringt neues Leben hervor.

Was können wir von dieser Symbolik für unser Leben fruchtbar machen?
Vielleicht ist es die Erkenntnis, dass alles Leben von verschiedenen Qualitäten und Kräften braucht. Nur so entsteht Ganzheit. Es ist der lebensnotwendige Lauf der Dinge, dass mal die eine, mal die andere dieser unterschiedlichen Kräfte mehr Raum einnimmt. Befinden sich die Kräfte jedoch dauerhaft in einem starken Un-Gleichgewicht können wir häufig feststellen, dass dies das Leben bzw. die Lebensqualität beeinträchtigt.
Beltane, das Fest der Vereinigung und Fruchtbarkeit kann eine gute Gelegenheit sein, der Frage nachzugehen: Wie sieht dieses Thema gerade bei mir aus?
- Welche Kräfte bzw. Qualitäten sind bei mir im Moment stark ausgeprägt, welche eher schwach? Wovon habe ich zuviel und wovon brauche ich mehr, damit ich aufblühen kann?
- Gibt es Kräfte bzw. Qualitäten, die ich vielleicht (unbewusst) bevorzuge, die gut zu meinem Selbstbild passen?
- Gibt es Kräfte bzw. Qualitäten, die ich eher ablehne, denen ich nur ungern Raum gebe, weil ich mich nicht gut mit ihnen identifizieren kann?
- Wie könnten Kräfte bzw. Qualitäten, die ich eher ablehne, fruchtbar für mich sein? Kann ich hier mit meiner Bewertung und der Perspektive spielen?
- Welche Kräfte bzw. Qualitäten sind in meiner Lebenssituation gerade besonders hilfreich und fruchtbar?
Unbändige Freude und Lebenslust

Das Lebensgefühl des Mai ist Befreiung von Dunkelheit und Enge. Der helle und warme Jahrestag beginnt. Und im übertragenen Sinn geht es auch um das Ausbrechen aus einengenden Denk- und Verhaltensmustern!
Wir befinden uns im Süd-Osten. Nach dem naturpsychologischen Entwicklungsmodell und Lebensrad der Vier Schilde (Meredith Little/Steven Foster) ist es Wesen der Ost-Qualität, geltende Normen und Denkmuster zu hinterfragen und zu erneuern.
In meiner Kindheit wurde und auch heute noch wird dem noch durch teilweise grenzwertige Streiche in der Walpurgis-Nacht Ausdruck gegeben. In der Walpurgis-Nacht bestand in meiner Gegend in der Mitte Deutschlands die ungeschriebene Erlaubnis, dass man Menschen, die sonst die Regeln aufstellten wie Eltern, Lehrern oder Nachbarn, einen Denkzettel-Streich verpassen durfte (z.B. Eier gegen das Haus werfen).
Seit alten Zeiten gibt es solche bereinigenden Gelegenheiten, bei denen die geltenden Regeln außer Kraft gesetzt werden und die Mächtigen entmachtet werden (siehe hier auch den Beitrag Karneval). Solche Bräuche konnten einem Erstarren von Regeln entgegenwirken. Regeln und die, die sie aufstellen, durften lächerlich gemacht und ungestraft kritisiert werden. In der Walpurgis-Nacht konnten so bestehende Regeln ungestraft in Frage gestellt werden, um eine Erneuerung von Normen und Denkmustern zu fördern (Ost-Qualität).
In der Natur wird diese Erneuerung mit einer unbändigen Lebenslust und Lebenskraft begleitet. Der Winter ist spätestens nach dem Besuch der germanischen Frostriesen bzw. christlichen Eisheiligen (11. bis 15. Mai) endgültig vorbei. Neue pralle und überschäumende Lebensfreude und Kraft sind mit dem Erstarken der Sonne überall zu spüren und zu sehen – im Wachstum der Pflanzen und dem Tollen der Tierkinder.

Dieser – nach dem langen Winter unbändigen – Lebensfreude wurde früher und auch heute noch mit ausgelassenen Freudenfesten Ausdruck gegeben. Eines dieser alten Feste, dass auch heute noch bekannt ist, ist die bereits erwähnte Walpurgis-Nacht. Walpurgis war die vorchristliche Maigöttin, die später als heilige Walpurga christianisiert wurde. Walus bezeichnet im Germanischen den Stab oder Zauberstab der germanischen „Zauberer“, der weisen Männer und Frauen. Vala ist die germanische „Zauberin“ oder Seherin. Walaruna ist eine Seherin, die die Geheimnisse kennt, also ein besonderes „Zauber“-Wissen hat. Die germanische Namensherkunft deutet also auf Männer und Frauen mit einem besonderen Wissen („Zauber“-Wissen) und einer besonderen Funktion in der Gesellschaft hin. Bei den Germanen trafen sich in der Walpurgisnacht diese Frauen und Männer an ausgewählten Plätzen auf umwaldeten Berganhöhen. An großen Freuden-Feuern mit Musik, kultischen Tänzen und Ritualen, wie dem über die Flammen Springen, wurde die Fruchtbarkeit und das neue Leben gefeiert. So entstanden wohl auch die Mythen von der Hexennacht und dem Hexensabbath, etwa am Blocksberg, Melibokus oder Brocken im Harz, wo die Hexen rund um ein großes Feuer auf ihren Besen durch die Lüfte ritten. Diese Geschichten wurden dann – verbunden mit viel Leid – auch im Mittelalter in der Zeit der Hexenverfolgung, aufgegriffen.
Lebendiges altes Brauchtum

Trotz all dem ist viel von dem vor-christlichen Brauchtum bis heute lebendig geblieben. So gibt es auch heute noch Streiche von jungen Menschen zur Walpurgisnacht und ausschweifende Tanz in den Mai-Feiern, die der neu erwachenden Lebensfreude des herannahenden Sommers Ausdruck verleihen.
In vielen Gegenden wird ein geschmückter Maibaum aufgestellt, ob in der Dorfmitte oder unter dem Fenster der Liebsten. Der Maibaum kann als Phallus-Symbol gedeutet werden, der für die schöpferische Kraft des Himmels steht. Mit bunten fröhlichen Bändern geschmückt wird er in die das Leben gebärende Erde gerammt. Auf diese Weise versinnbildlicht er auch die göttliche Hochzeit. Zugleich steht der Maibaum auch für den aus der germanischen Kultur stammenden Weltenbaum – Yggdrasil – der die Menschenwelt Midgard mit den Welten der Götter und anderen Wesen verbindet. Auch hier ist wieder das Thema der Götterhochzeit, die Vereinigung von Himmel und Erde, zu finden.
Das Umwickeln des Baumes mit bunten Bändern verwebt buchstäblich das Schicksal der Menschen mit dem Baum des Lebens und seinem Segen.
Wir können die Energie des Mai zum Anlass nehmen und erforschen, wie sich die unbändige Lebenskraft und Freude, die in jedem Lebewesen steckt, sich in unserem Alltag zeigt:
- Wo bin ich voller Lebenskraft und Freude?
- Und in welchen Bereichen bin ich in meiner Lebenskraft und Freude eingeschränkt? Wo schränke ich mich vielleicht selbst ein? In welchen Bereichen meines Lebens fehlt es an Leidenschaft, Freude und Leichtigkeit?
- Was braucht es, um fruchtbare Prozesse voranzubringen? Was brauche ich, damit die Lebenskraft und Lebensfreude ungehindert fließen kann?
Aufblühen und das Leben spüren – Sinnlichkeit und Lebendigkeit

„We need to come home to the temple of our senses. Our bodies know they belong to life, to spirit. It‘s our minds that make our life’s so homeless. Guided by longing, belonging is the wisdom of rhythm. When we are in rhythm with our own nature, things flow and balance naturally.
John O‘Donohue, Eternal Echo
Der Wonnemonat-Mai ist der Monat der Sinnlichkeit, der Lust und des Genusses, des Blühens. Es geht um Körperlichkeit.
Es ist eine Einladung dafür, dass wir uns Zeit nehmen zum Spüren – mit allen Sinnen. Das Schmecken der frischen Kräuter, der ersten Gemüse und der ersten Erdbeeren. Das Riechen der kräftigen Blütengerüche – allen voran der stark duftenden Weißdorn-, Flieder- und Holunderblüten – oder des würzigen Bärlauchs. Das Sehen des satten frischen Grüns der Wiesen, Bäume und Sträucher, der blühenden Farben der Blumen nach der farblosen Winter-Landschaft. Das Spüren der wärmenden Sonne und des frischen, weichen Grases auf der Haut.

Und nicht zuletzt das Rein-Spüren in den Körper:
- Was kann ich gerade wahrnehmen in meinem Körper? In welchem Körperteil spüre ich welche Empfindung? Kann ich all meine Körperteile spüren, auch den mittleren Zeh, mein linkes Knie, den rechten Unterarm?
- Welche Stimmungen, Gefühle und Gedanken sind jetzt gerade da? Und wo in meinem Körper kann ich sie spüren? Von Moment zu Moment – was verändert sich?
Wir Menschen verbringen mittlerweile viel mehr Zeit drinnen, als draußen. Im Vergleich zu unseren Jäger- und Sammler-Vorfahren sind wir in unserem Lebensalltag daher nicht mehr so auf unsere Sinneswahrnehmung angewiesen. Folge davon ist, dass unsere Sinneswahrnehmung zum Teil nicht mehr so fein ist. Es ist eine wertvolle Übung immer wieder im Tageslauf Innezuhalten und bewusst zu spüren – was kann ich wahrnehmen, sehen, hören, riechen, fühlen, schmecken.
Das kostet etwas Kraft und die entsprechende Absicht. Wir sind gewohnt uns ständig aktiv zu halten, uns abzulenken von dem bewussten Wahrnehmen unserer Körperempfindungen. Wir sind in unserer schnellen und rational-dominierten Gesellschaft so oft im Denken, dass wir gar nicht mitbekommen, was in unserem Körper los ist. Wir können beobachten, dass wir in unseren Gedanken oft in der Vergangenheit oder Zukunft sind. Weg von dem, was jetzt gerade ist. Wir sollten das Denken aber auf keinen Fall verteufeln. Denken ist nicht per se schlecht, sondern ein wunderbares Geschenk – es geht auch hier ums Gleichgewicht, den mittleren Weg, ein Ausbalancieren zwischen den Extremen. Nicht entweder Denken (Nord-Qualität) oder Körperlichkeit (Süd-Qualität), sondern „und“ das auch!
Wir dürfen nicht vergessen, dass wir Zugang zur Wirklichkeit, zum Leben, zu uns selbst und anderen letztlich nur über unseren Körper bekommen, durch unsere Sinne, durch das unmittelbare Erfahren der Wirklichkeit. Der Körper mit all seinen Sinnen ist das Tor zu dieser Wirklichkeit. Und das Spüren öffnet die Möglichkeit in eine echte Verbindung zu mir, zu den anderen und zu dieser Welt zu kommen. Wirklich mitzubekommen, was bei mir und bei dem anderen gerade da ist – ohne zu werten, liebevoll, geduldig und voller Freude an der Wirklichkeit, an dem, was gerade da ist. Und wir müssen nicht den Mut verlieren, wenn wir immer wieder in die Trance des Nicht-Spürens und des Nicht-Mitbekommens abgleiten. Jede Gelegenheit bei der wir uns wieder daran erinnern und üben, zu spüren, macht einen Unterschied und verändert unsere Verhaltensmuster und neuronalen Denkstrukturen im Gehirn. Wenn wir spüren, was gerade da ist, dann ist sind das nicht immer nur angenehme Erfahrungen. Die Wirklichkeit ist manchmal auch unangenehm. Das Sehen und Anerkennen, von dem, was ist und wie es ist, ist aber immer auch ein Stück befreiend und in jedem Fall lebendig!
This very body that we have, that’s sitting right here right now… with its aches and its pleasures… is exactly what we need to be fully human, fully awake, fully alive.
Pema Chödrön

Möget ihr bewusst und wach das Leben so erfahren und spüren, wie es ist. Möget ihr voller Freude an dieser wunderbaren Welt mit ihren reichen Geschenken und an unserm wunderbaren Körper sein.
Lasst uns das Leben und die Freude feiern!
Quellen: Kaiser, Martina, Der Jahreskreis; Storl, Wolf Dieter, Pflanzen der Kelten; Foster, Steven / Little, Meredith: Die vier Schilde, Invitationen durch die Jahreszeiten der menschlichen Natur; Rätsch, Christian: Der heilige Hain, Germanische Zauberpflanzen, heilige Bäume und schamanische Rituale.