In meinem Naturtagebuch halte ich meine Beobachtungen und Gedanken zu Bäumen fest – im Fall der Eibe zu einer ganz bestimmten Eibe. Mit meinem Baum-Journal lasse ich die uralte Verbindung unserer Ahnen zu den Bäumen wieder aufleben. Bäume sind uralte Lebewesen, die uns ähnlicher sind, als wir denken. Bäume warten für uns Menschen seit Urzeiten Götter, Lehrerinnen und Heiligtümer. Wir können viel von ihnen lernen – über die Welt, über Verbindung und uns selbst.
„Meine“ Eibe habe ich ein Jahr lang genau beobachtet – wie sie blüht, ob sie Früchte und Zapfen bildet. Wer ihre Nachbarn sind. Wer sie bewohnt, wer sie besucht und Spuren auf ihrer Rinde hinterlässt. Ich habe diese Eibe immer wieder ganz bewusst aufgesucht – sie ist mir nun sehr vertraut – „meine“ Eibe. Wir kennen uns. Sie ist meine Lehrerin und hat eine Bedeutung für mich.
Nature Journaling ist eine der Kernroutinen der Wildnispädagogik. Gleichzeitig ist sie eine wichtige Praxis der Naturachtsamkeit.
Beim Nature Journaling geht es nicht darum, besonders schöne Zeichnungen zu erstellen. Wir sind völlig frei darin, wie wir unser Naturtagebuch führen – mit Skizzen, Bildern, Worten oder auch Sammelstücken. Diese Freiheit sollten wir uns nehmen und uns frei von Erwartungsdruck und Konzepten von „Schön“ und „Wertvoll“ machen. Wichtig ist, dass wir unseren eigenen Weg und Ausdruck finden. Und wie bei jeder Praxis ist Regelmäßigkeit von entscheidender Bedeutung. Lieber weniger, aber häufiger. Beim Nature Journaling geht es um Naturverbindung, Verbindung zu uns selbst, Achtsamkeit, Neugier und Kreativität.
Wenn wir unsere Beobachtungen in Worte und Bilder fassen wollen, müssen wir uns Zeit nehmen und genau hinschauen. Das entschleunigt. In diesem Raum entstehen Fragen und Neugier. Wir kommen ins Erforschen und Entdecken. Weitere Fragen entstehen. Ich fange an, in Bestimmungsbüchern und Büchern über altes Pflanzenwissen nachzuforschen. Dadurch kann eine tiefe Verbindung zu den Lebewesen, Bäumen und Pflanzen entstehen. Im Fall meiner Eibe sogar zu einem ganz bestimmten Baumwesen.
Was macht die Eibe aus?
Die Eibe ist ein verhältnismäßig kleiner oft nur strauchartiger Baum mit einer Höhe bis zu 15 Metern. Im Alter ist sie oft mehrstämmig und stark verwachsen. Trotz ihrer geringen Größe ist sie in der Kultur der Menschen schon lange – etwa bei den Kelten, Germanen und Römern – ein mächtiger, alter Kulturbaum. Meist wird ihr eine eher düstere und unheimliche Bedeutung mit einer starken Verbindung zum Tod und zur Anderswelt, der Geisterwelt, zugeschrieben. Unzählig viele Geschichten, Mythen und Legenden ranken sich um diesen Baum. Kennst du auch welche?
Giftigkeit und Bogenholz
Ein Grund für die düstere Aura, die die Eibe umgibt, ist ihre Giftigkeit. Hierauf verweist auch der lateinische Name der Eibe Taxus baccata. Unter einem Toxikum versteht man ein Pfeilgift. Und genau so wurde das Gift der Eibe (Blätterabsud) früher auch verwendet. Bis auf den fleischigen Samenmantel der roten Scheinfrüchte sind alle Bestandteile der Eibe – Rinde, Nadeln und Kerne – hoch giftig (Alkaloid Taxin und Glykosid Taxicatin). Kleinste Mengen reichen für tödliche Vergiftungen, die zu Atemlähmung und Herzstillstand führen.
An warmen Tagen kann die Eibe psychoaktive Gase mit einer haluzinogenen Wirkung freisetzen. Bereits im Märchen Jorinde und Joringel von den Gebrüdern Grimm, in Shakespeares Romeo und Julia und alten Volksweisheiten wird von solchen Erfahrungen erzählt bzw. vor längeren Aufenthalten im Eibenhain gewarnt. Dies steht im Einklang mit der Bedeutung der Eibe als Schwellenbaum zur Anderswelt.
Das griechische Wort Toxon bedeutet Bogen. Das harte, aber sehr flexible Holz ist seit der Steinzeit als Bogen- und Speerholz beliebt und wurde schon von den Neanderthalern verwendet. Die hohe Nachfrage, etwa für englische Langbögen, und Übernutzung wird als Grund genannt, warum die Eibe auf der roten Liste für bedrohte Arten steht. Bei den Bauern wurde sie zum Teil auch aufgrund ihrer Giftigkeit für das Vieh gefällt.
Schwellenbaum – Leben und Tod
Die Kelten glaubten, dass die langsam wachsende Eibe, das langlebigste Lebewesen der Welt sei. Es wird vermutet, dass einige Bäume mehrere Tausend Jahre alt sind. Die Eibe ist in ihrer spirituellen Bedeutung für die Kelten und Germanen ein mächtiger Schwellenbaum – an der Schwelle vom Leben zum Tod, von der sichtbaren Welt zur nicht sichtbaren Anderswelt. Der keltische Name „ivo“, „ivos“ oder „ibar“ könnte mit dem alten Wort „ewa“ oder „ewig“ verwandt sein. Nach alten Mythen öffnet die Eibe die Pforte zur Ewigkeit, indem sie den Lebenskreislauf von Entstehen und Vergehen, von Raum und Zeit durchbricht.
„Raum und Zeit sind die Bedingungen der menschlichen Identität und Wahrnehmung. (…) Sobald die Seele aber den Körper verlässt, steht sie nicht mehr unter der zweifachen Bedingung von Raum und Zeit. Die Seele ist frei da zu sein, wo immer sie zu sein wünscht.“
John O’Donohue, Anam Caram
Die Eibe ist ein Symbol für den Tod und die Ewigkeit. Dies ist der Grund, warum sie heute noch häufig rund um Friedhöfe – so in meiner Nachbarschaft um den Waldfriedhof in Köln-Dellbrück – anzutreffen ist. Die Eibe gilt als einer der heiligsten Druidenbäume. Zauberstäbe der keltischen Druiden und magische Schutzamulette sollen aus Eibenholz hergestellt worden sein. Es wird vermutet, dass der Weltenbaum Yggdrasil aus der germanischen Mythenwelt nicht eine Esche, sondern immergrüne Eibe ist. Bei den Kelten war die Eibe der Todesgöttin Morrígan gewidmet, deren dunkle Zeit mit dem keltischen Jahreskreisfest Samhain – heute Halloween – im Oktober beginnt. Zu Samhain sollen die Schleier zur Anderswelt besonders dünn sein. Die Geister können leichter in unsere Welt kommen und auch wir haben leichteren Zugang zur nicht sichtbaren Welt. Mit dem Tod des Lebens im Herbst beginnt die Zeit der Erneuerung im Verborgenen der Erde. Aus dem Samen wird in der Dunkelheit neues Licht (Wintersonnenwende) und neues Leben geboren. Hierfür steht die Verbindung des keltischen Wald-Gottes Cernunnos, mit seinem Hirschgeweih, und der Göttin der Erde Ana oder Dana. Der Samen des Waldes spendet Leben auf der Erde. Die dunkle Seite der Eibe, der Tod, ist damit als Ausdruck von Ganzheit auch mit dem Neubeginn, der Wiedergeburt des Lichtes und Leben verbunden.
Was bedeutet die Eibe für mich? Was lehrt mich meine Eibe?
Ich habe meine Eibe in unserem Garten erst spät – nach ein paar Jahren – entdeckt und wirklich wahrgenommen. Sie war zunächst versteckt zwischen einigen Fichten. Die Fichten haben die heißen, trockenen Sommer (2018, 2019 und 2020) nicht überlebt. Aber meine Eibe hat tiefe Wurzeln. Sie hat diese Zeit völlig unbeschadet überstanden. Die Eibe steht im Schatten der großen Bäume – Kirsche, Götterbaum und Tanne. Das stört sie nicht. Die Eibe muss nicht im Mittelpunkt stehen. Sie lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Langsam wächst sie und trotzt schwierigen Bedingungen. Sie ist eine gute Lehrerin in Durchsetzungsfähigkeit, Gelassenheit und Bescheidenheit. Sie lehrt mich, wie wichtig es ist, gut verwurzelt zu sein, damit man sich sicher fühlen kann und Halt in schwierigen Phasen hat. Tiefe Wurzeln machen uns resilient, so dass man sich nach Zeiten der Dürre und des Mangels wieder erholen kann.
Ich mag die spirituelle Bedeutung der Eibe als Schwellenbaum zwischen Leben und Tod, sichtbarer und nicht sichtbarer Welt. Sie ist für mich ein Symbol für die Vergänglichkeit. Nach den Buddhisten ist die Vergänglichkeit oder Veränderlichkeit – Anicca – eines der drei Merkmale, die unser Dasein auf dieser Welt prägen. Es lohnt sich, sich immer mal wieder zu vergegenwärtigen, dass alles im Leben entsteht und vergeht. Das kann sensibel machen für die Kostbarkeit des Lebens, des Moments, einer Beziehung oder Begegnung mit einem geliebten Lebewesen. Es motiviert mich, meine Zeit für die Dinge zu nutzen, die mir wirklich wichtig sind und nicht in Streit und Trennung zu bleiben.
Gleichzeitig steht die Eibe für mich für die tiefen Wurzeln und guten Ressourcen, die man manchmal braucht, um den Schmerz und die Traurigkeit halten zu können, die beim Abschied nehmen entstehen kann. Die Eibe ist für mich eine tröstliche Erinnerungan den ewigen Kreislauf von Entstehen und Vergehen (siehe hierzu auch: Keltischer Jahreskreis – Ein europäisches Medizinrad), daran, dass sich nach dem Tod etwas Anderes auftut. Die Physik lehrt uns, dass nichts für immer verschwindet. Alles wird nur zu etwas Anderem. Das gilt auch für uns. Vielleicht hat der Tod neben all dem Schmerzhaften auch etwas Befreiendes, wenn wir nicht mehr an Raum und Zeit gebunden sind. Vielleicht ist es dann vorbei mit dem Schmerz, der durch das Raumempfinden und das damit verbundene Gefühl der Trennung entstehen kann – ich bin Anne, ich bin allein in meinem Körper, mit meiner Wahrnehmung, auf meinem Anne-Planeten. Und auch mit dem Schmerz aufgrund unseres Zeitempfindens, dass alles wieder vergeht und nichts für immer ist – auch schöne Momente, Beziehungen, körperliche Kraft mit dem Altern. Die Eibe erinnert mich tröstlich daran, dass die Toten – in welcher Form auch immer – unter uns sind.
„Auf die Frage, wohin die Seele gehe, wenn der Mensch stirbt, antwortete Meister Eckhart: An keinen Ort. Wohin sonst könnte die Seele gehen? Wo sonst wäre die ewige Welt? Sie kann nirgendwo sein als hier. Unser begriffliches Denken macht die ewige Welt fälschlicherweise zu etwas Räumlichem und rückt sie dann in unermessliche Ferne, wie irgendeine unbekannte Galaxie. Doch die ewige Welt scheint gar kein Ort, sondern vielmehr eine andere Seinsebene zu sein. Die Seele der Verstorbenen geht nirgendwohin, weil es gar keinen anderen Ort gibt, an den sie gehen könnte. Dies deutet darauf hin, dass die Toten hier bei uns sind, in der Luft, durch die wir uns ununterbrochen bewegen. Der einzige Unterschied zwischen uns und den Toten ist der, dass sie sich jetzt in einer unsichtbaren Form befinden. Wir können sie mit unserem menschlichen Auge nicht sehen, wohl aber können wir die Gegenwart jener Toten spüren, die wir zur Lebzeiten geliebt haben“ .
John O’Donohue, Anam Caram
Die Eibe steht für mich für Ganzheit. Ich spüre Widerstand und Angst wegen ihrer Giftigkeit. Die Eibe kann mich lehren, auch mit unseren Schattenseiten und den zerstörerischen Kräften in Kontakt zu kommen. Auch diese Seiten sind Teile von uns Menschen. Es ist eine lebenslange Übung einen Umgang mit den Schatten zu finden. Und Zerstörung hat etwas kraftvoll Reinigendes. Die Eibe erinnert daran, dass manchmal erst etwas gehen muss, damit etwas Neues entstehen kann.
In den Monaten der intensiven Beobachtung und des Nature Journaling hat sich etwas verändert – ich sehe meine Eibe mit anderen Augen, mit den Augen meines Herzens. Ich spüre eine persönliche Verbundenheit mit diesem konkreten Baum. Meinen Drillbogen habe ich den alten Traditionen folgend aus dem Holz meiner Eibe gefertigt. Dieser Bogen bedeutet mir etwas.
Quellen
Young, Jon / Hass, Ellen / McGown, Evan: Coyote-Guide, Grundlagen der Wildnispädagogik; Hillgärtner, Verena: Nature Journaling; Storl, Wolf-Dieter: Unsere fünf heiligen Bäume, S. 143 ff.; Urbanovsky, Claudia / Le Scouezec, Gwenc’Hlan: Der Garten der Druiden, S. 325 ff.; Krämer, Claus: Mythen und Sagen der Kelten, S. 90; Das Buch der keltischen Mythen, Von Göttern, Kriegern, Feen und Druiden, S. 197.
Überall auf der Welt symbolisieren seit Urzeiten Kreise, Medizin- und Lebensräder den universellen Kreislauf des Lebens von Entstehen und Vergehen. Unsere keltischen Ahnen waren noch eng verbunden mit dem Kreislauf der Jahreszeiten. Für sich verlief die Zeit im Kreis. So bewegt sich auch das Jahr im Kreis vom Frühling zum Winter und wieder vom Frühling zum Winter. Die Qualitäten dieser Zeiträume im Zyklus der Jahreszeiten und die Bedeutung für ihr Leben feierten unsere Vorfahren mit Ritualen und Festen. Der keltische Jahreskreis setzt sich aus insgesamt acht Jahreskreisfesten zusammen, die für die unterschiedlichen Phasen und Zeitqualitäten im universellen Kreislauf und im natürlichen Jahresverlauf stehen.
Auch wenn wir heute nicht viel wirklich sicher über unsere keltischen Vorfahren wissen, können wir einiges von ihnen lernen. Der Keltische Jahreskreis ist ein europäisches Medizinrad, dass uns als Spiegel und Kompass für unsere inneren Landschaften dienen kann. Er spricht die tief in uns verwurzelte Symbol- und Bildsprache der europäischen Landschaft.
Dadurch kann Verbindung und ein Gefühl der Zugehörigkeit zur Natur und zu einem größeren Ganzen, dem Netz des Lebens entstehen. Die Rückbindung an den natürlichen Rhythmus des Lebens hat in der modernen Welt zwar nicht mehr die gleiche Dringlichkeit, wie für unsere Vorfahren, deren Überleben davon abhing. Vielleicht hat es aber nicht viel an Dringlichkeit eingebüßt. Denn in unserer modernen einseitig Intellekt-orientierten Welt voller Entfremdung und seelischer Verarmung, sichert die Rückbindung an den natürlichen Kreislauf das Überleben unserer Seele. Der Keltische Jahreskreis kann uns helfen, wieder im Einklang mit dem universellen Rhythmus des Lebens zu leben, der auch unser eigener Lebensrhythmus ist. Wir können heimisch werden auf dieser Welt. Eingebettet in den ewigen Kreislauf wiegt uns der Rhythmus des Lebens – auf und ab und auf und ab.
Der universelle Kreislauf von Entstehen und Vergehen
Überall auf der Welt symbolisieren seit Urzeiten Kreise, Medizin- und Lebensräder den universellen Kreislauf des Lebens von Entstehen und Vergehen, Entstehen und Vergehen. Unser Atem folgt diesem Rhythmus genauso, wie die Gezeiten des Meeres. Alles bewegt sich nach demselben universellen Rhythmus und Kreislauf. Alles Leben entsteht aus der Dunkelheit, dem Verborgenen, dem Unbekannten, dem tiefen Winter. Der keimende Pflanzensamen aus der Dunkelheit der Erde genauso wie wir Lebewesen aus dem dunklen Körper unser Mutter. Das neue Leben wird erst mit der Geburt, dem Keimen sichtbar. Es wächst dann und blüht auf. Es kommt zur Befruchtung, zur Reife und Vollendung, zur äußeren oder inneren Ernte. Das Sterben der Pflanze bereitet dann den Weg für das Samenkorn durch die Dunkelheit – den Stillstand – die Leere in einen neuen Kreislauf. Der Kreis steht dafür, dass das Ende zugleich der Anfang ist. Wir bewegen uns in einem ewigen Kreislauf des Wandels und der Veränderung. Jedes Jahr gleich und jedes Jahr anders. Nichts verschwindet für immer, alles verändert sich und wird zu etwas anderem. Auch der Tod ist nur der Anfang von etwas Neuem, Unbekannten.
Das Jahr mit seinen Jahreszeiten ist ein solcher wilder rhythmischer Kreis. Das gleiche gilt für den Verlauf der Sonne im Tag- und Nachtrhythmus, den Mondzyklus, die Vegetationsphasen von Pflanzen und Bäumen. Auch der weibliche Menstruationszyklus folgt dem Zyklus der inneren Jahreszeiten. Und wie sollte es anders sein – dieser ewige Rhythmus gilt auch für das menschliche Leben und Sterben. Wir sind aus denselben Atomen und Teilchen wie das Universum und alles, was sich darin befindet. Wir sind nicht getrennt von der Natur. Auch wenn wir das heute oft vergessen: Wir sind Natur und unterliegen als solche den gleichen Gesetzmäßigkeiten wie alle anderen Lebensformen.
„Alle Kräfte der Welt wirken in Kreisen. Der Himmel ist rund und wie ich höre, ist die Erde rund wie eine Kugel und ebenso alle Sterne. Wenn der Wind am heftigsten weht, bildet er runde Wirbel.
Die Vögel bauen ihre Nester kreisrund, denn sie haben die gleiche Religion wie wir. Die Sonne geht in einem Kreis auf und wieder unter – der Mond macht es ebenso – und beide sind rund.
Sogar der Wechsel der Jahreszeiten bildet einen großen Kreis und kehrt immer wieder dahin zurück wo er begann. Das Leben der Menschen ist ein Kreis – von Kindheit zu Kindheit – und so ist es mit allem, worin sich die Kraft regt.“
Black Elk, Medizinmann der Lakota Sioux
Der keltische Jahreskreis
Unsere vorchristlichen Ahnen in Europa waren als Jäger- und Sammler und später als Bauern- und Hirten notwendigerweise eng verbunden mit dem Kreislauf der Jahreszeiten, dem Klima, der Vegetation und der einheimischen Tierwelt. Das eigene Überleben hing davon ab. Dies galt auch für unsere keltischen und germanischen Vorfahren. Für unsere mitteleuropäischen keltischen Ahnen bewegt sich die Zeit im Kreis. So bewegt sich auch das Jahr im Kreis vom Frühling zum Winter und wieder vom Frühling zum Winter. Die unterschiedlichen natürlichen Zeiträume in diesem Jahreskreis wurden von Natur-Gottheiten verkörpert und „beherrscht“. Die Qualitäten dieser Zeiträume im Zyklus der Jahreszeiten und die Bedeutung für ihr Leben feierten unsere Vorfahren mit Ritualen und Festen. Der keltische Jahreskreis setzt sich aus insgesamt acht Jahreskreisfesten zusammen, die für die unterschiedlichen Phasen im universellen Kreislauf stehen.
Die Kelten – naturverbundene Ureinwohner Europas
In unseren modernen Welt schauen wir heute manchmal sehnsüchtig und etwas verklärt zu den letzten indigenen Kulturen auf dieser Welt, die sich ihre tiefe Verbindung zur Natur, zu sich selbst und zu einer funktionierenden Gemeinschaft bewahrt haben. Doch wenn wir zu unseren eigenen Wurzeln schauen, können wir feststellen, dass wir auch mal naturverbundene Stammesmenschen, auch mal „Indianer“ oder „Ureinwohner“ waren.
Das gilt natürlich für unsere steinzeitlichen Jäger- und Sammlervorfahren, die ersten Bauernkulturen, aber auch noch für die danach in Nord- und Mitteleuropa verbreiteten Kelten und Germanen. Dabei muss man sich immer wieder bewusst machen, dass es „die“ Kelten und „die“ Germanen nicht gibt. Es handelt sich dabei vielmehr um eine Vielzahl an Stämmen und Clans. Vereinfacht gesagt, waren die keltischen Stämme in Mitteleuropa um etwa 800 v Chr. bis kurz vor Beginn unser Zeitrechnung heimisch, während die germanischen Stämme ursprünglich in Nordeuropa, Skandinavien zu Hause waren und sich kurz vor Beginn unser Zeitrechnung immer wieder bis zum Beginn des Mittelalters Richtung Süden ausbreiteten. Im Laufe der Zeit kam es zu zahlreichen Wanderbewegungungen und damit der Vermischung von keltischem und germanischem Kulturgut. Das und die wenigen Überlieferungen von diesen Stämmen selbst, kann es teilweise schwer machen, diese beiden naturverbundenen Stammeskulturen auseinanderzuhalten.
Die keltischen Stämme prägten die Kulturgeschichte in Europa über gut 800 Jahre bis kurz vor Beginn unserer Zeitrechnung. Die Siedlungsgebiete der keltischen Stämme erstreckten sich in ihren Blütezeiten fast über ganz Mitteleuropa. In der Hallstatt-Zeit ab ca. 800 v. Chr. siedelten keltische Stämme in einem Kerngebiet von Ungarn über den gesamten Alpenraum bis nach Ostfrankreich. In der La Téne-Zeit, einer zweiten Blüteperiode der keltischen Kultur ab ca. 450 v. Chr. breiteten sich keltische Stämme bis in den Mittelmeerraum nach Griechenland und Kleinasien und im Westen bis nach Spanien und um ca. 200 v. Chr. bis auf die britischen Inseln aus.
Das Ende der keltischen Blütezeit begann mit dem Vordringen der Römer kurz vor Beginn unserer Zeitrechnung über die Alpen, von germanischen Stämmen aus dem Norden in Richtung Süden und von slawischen Völkern aus dem Osten. Von nun kam es zu einer starken wechselseitigen kulturellen Beeinflussung, Vermischung, aber auch Verdrängung und Überlagerung. Der starke Missionierungsdruck der aufstrebenden christlichen Kirche spielt ebenfalls eine große Rolle. Damit wurde das Ende der naturverbundenen Stammeskulturen in Europa eingeläutet, die langsam in anderen Kulturen aufgingen.
Wer waren die Kelten?
Im europäischen Kulturraum war es immer schon zur Vermischung und wechselseitigen Beeinflussung von aufeinander treffenden unterschiedlichen Kulturen gekommen. So entstand auch die keltische Kultur, nachdem viehzüchtende indoeuropäische Reitervölker aus den Steppen des Ostens auf der Suche nach Weideflächen im Westen auf archaische Waldbauern in Mitteleuropa stießen. Diese Wanderfeldbauern lebten auf gebrandrodeten Lichtungen in dem von dichten Urwäldern bewachsenen Mitteleuropa. Wenn der Boden nichts mehr zum Leben hergab, zogen sie weiter. Die Kultur dieser patriarchalisch organisierten Hirten- und Steppenkrieger verschmolz nun ab ca. 1500 v. Chr. mit der Kultur der matriarchalisch organisierten Waldbauern. Dabei vermischten sich auch die Erd- und Pflanzen-Gottheiten der erdverbundenen Waldbauern mit den Himmels- und totemischen Tier-Gottheiten der indoeuropäischen Steppenvölker.
Die keltischen Stämme hatten weder ein zusammenhängendes Reich, noch eine einheitliche Sprache, Religion oder Kultur. Daher gibt es auch nicht den einen keltischen Jahreskreis. Die Kelten waren durch miteinander über die Väterlinie patrilinear verwandte Sippen und Klans innerhalb eines größeren Stammesverbandes organisiert. Als Erbe der matriarchalisch organisierten Waldbauerkulturen spielte jedoch auch die Mutterlinie eine große Rolle, etwa beim Aufziehen der Söhne. Die keltische Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen hat sich bis lange in unsere Zeit gehalten: Die Männer machten die schwere körperliche Arbeit mit dem Pflug und Vieh, betrieben Handel und Krieg, während die Frauen für den Haushalt, Garten und die Heilkunde zuständig waren. Diese Rollen waren jedoch durchlässig. So wurde auch von kriegerischen Frauen berichtet. Frauen hatten sowohl bei den Kelten, als auch Germanen einen recht gleichberechtigten Status. Ihr Rat als Seherinnen (Veleda) wurde hoch geachtet. Die Kelten lebten in Großfamilien mit ihrem Vieh auf Einzelhöfen oder in kleinen Weilern. Sie betrieben auch aufgrund einiger Erfindungen äußerst erfolgreich eine Mischung aus Viehzucht und Ackerbau. Die keltische Landschaft bestand daher aus einem Flickenteppich aus Wald, Wiese, Weide und Ackerland. Auf Anhöhen gab es befestigte Flieh- und Wehrburgen (oppida), die später bereits teilweise städteähnlichen Charakter hatten.
Nicht-Wissen und die Freiheit der eigenen Interpretation
Sicher wissen wir heute nur sehr wenig über unsere keltischen Vorfahren. Das muss man sich immer bewusst machen. Denn es gibt keine schriftlichen Aufzeichnungen der Kelten, die uns Einblicke in das Leben aus erster Hand erlauben würden. Gleiches gilt im Übrigen auch für unsere germanischen Vorfahren. Das Wissen der Kelten wurde aus kultischen Gründen von Druiden an Druiden in mehrjährigen Ausbildungen mündlich überliefert. Was wir heute wissen, haben wir uns aus archäologischen Funden zusammengereimt oder aus den schriftlichen Aufzeichnungen der Römer, Griechen und der irischen Mönche entnommen. Bei diesen Berichten sind gewisse Ungenauigkeiten zu vermuten – sowohl aufgrund von fehlenden genauen Kenntnissen der keltischen Stammeskulturen, als auch aufgrund der jeweiligen Intentionen und subjektiven Sicht der römischen Kriegsherren und christlichen Missionare. Einiges von dem, was wir wissen, entstammt aus den heute noch lebendigen Überlieferungen und gelebten Bräuchen aus Irland. Hier ist der Zeitversatz zu den vor mehr als 3.000 Jahren lebenden Kelten zu beachten und auch, dass es sich um Überlieferungen aus einem geografischen Randbereich der sehr inhomogenen keltischen Stammeskulturen handelt, die vermutlich nicht ohne weiteres Rückschlüsse auf alle Siedlungsgebiete und unterschiedlichen Stämme erlauben dürfte. Eine weitere Quelle sind auch die in Mitteleuropa und Deutschland noch teilweise überlagerten oder von der christlichen Kirche adaptierten Bräuche, Rituale und Feste. Besonders spannend finde ich die Entdeckung, dass unsere Märchen und Mythen, die viele hunderte und vermutlich tausende Jahre mündlich überliefert wurden, bevor sie von den Gebrüder Grimm und anderen aufgeschrieben wurden, Elemente, Geschichten und Weisheit unserer Vorfahren enthalten.
Wenn wir etwas über die Kelten erfahren wollen, müssen wir also detektivisch auf Spurensuche gehen und die Spuren auch lesen lernen. Das ist bei der menschlichen Spurensuche nicht anders, als bei der tierischen Spurensuche. Und nicht zuletzt dürfen wir uns bewusst sein, dass wir vieles über unsere keltischen Vorfahren nicht wissen. Vieles bleibt daher letztlich unserer eigenen subjektiven Interpretation überlassen. Und das ist auch in Ordnung und eröffnet gerade im Hinblick auf den keltischen Jahreskreis viele Möglichkeiten. Immer schon haben sich Kulturen weiterentwickelt und ihre Sichtweisen, Geschichten, ihren Glauben, ihre Rituale und Lebensweise ihren eigenen Vorstellungen angepasst. Wir dürfen uns hier guten Gewissens eine gewisse Interpretations-Freiheit herausnehmen und selbstverantwortlich entscheiden, welche Sichtweise, welches Ritual und welche Praxis uns heute in unserer Lebenssituation gerade gut tut.
Natur-Spiritualität – Was wir von den Kelten lernen können
Die keltischen Stammeskulturen lebten als Vieh- und Ackerbauern eng verbunden mit den Zyklen der Natur. Mit dem Vordringen der Römern und wissenschaftsorientierten Griechen, der Aufklärung und schließlich fortschreitenden Industrialisierung ist eine starke Betonung von Objektivität, Intellekt, Rationalität, Wissen und Vernunft (Nord- bzw. Winter-Qualität im Jahreskreis) einhergegangen. Dem haben wir sicher viel Fortschritt, Wohlstand und ein Höchstmaß an individueller Freiheit zu verdanken.
Mir ist in den letzten Jahren aber klar geworden, dass durch den starken Fokus auf diesen Nord- und Winterqualitäten auch ein großes Ungleichgewicht entstanden ist. Ich konnte es lange nicht genau fassen: Es ist die Sehnsucht nach dem spirituellen Osten und dem körperlichen und sinnlichen Süden, den ich mein ganzes Leben gespürt habe. Eine Sehnsucht und ein Bedürfnis nach Subjektivität, nach dem nicht Sichtbaren, nach Gefühlen, Träumen, nach Nicht-Wissen, sondern nur vage Ahnen, nach Spüren, nach Zauber, Wunder und Staunen.
Die Medizin (im Sinne von Kraft) der Kelten, die wir heute brauchen, ist ihre tiefe Naturspiritualität, ihre naturmystische Wahrnehmung von der Welt und dem Universum. In unserer einseitig intellektuellen und wissensorientierten Kultur ist es zu einer seelischen Verarmung gekommen, die viele bewusst oder unbewusst fühlen. Auch die in Dogmen erstarrte christliche Religion kann dem immer weniger etwas entgegen setzen. Ich beobachte und erfahre oft, dass meine Mitmenschen nur das als Wirklichkeit wahrnehmen, was sie sehen und sich wissenschaftlich erklären können. Der Glaube an eine nicht sichtbare Welt wird oft als „esoterisch“ verlacht. Dass aber auch die Wissenschaften, bei all den wunderbaren Errungenschaften, vieles nicht sicher wissen und in ihren Erkenntnismöglichkeiten stark eingeschränkt sind, machen wir uns in unserer starren Wissenschaftsgläubigkeit oft nicht klar.
Um mehr Ganzheit und Balance in unserer Leben zu bekommen braucht es neben der Rationalität, der Wissenschaft und der Vernunft auch Irrationalität, subjektiven Glauben, das Wahrnehmen von mehr als der nur sichtbaren und beweisbaren Welt. Und um das nochmal klarzustellen. Mir geht es nicht um „Esoterik“. Denn heute dürfte kein ernsthafter Wissenschaftler mehr bestreiten, dass unsere menschliche Wahrnehmung und unser menschlicher Verstand zu begrenzt sind, um alles mit unseren Augen und unserem Verstand intellektuell wahrnehmen und verstehen zu können. Das geflügelte Wort „Ich weiß, dass ich nicht weiß“ bringt dieses Bewusstsein zum Ausdruck.
Was wir modernen Menschen häufig aberzogen und verlernt haben, ist die Wahrnehmung der nicht sichtbaren Welt. Wenn wir uns darauf einlassen und Konzepte – besonders auch menschliche Konzepte von der sichtbaren und nicht sichtbaren Welt – hinter uns lassen, dann können wir spüren, dass da mehr ist. Hier können wir uns von den Kelten inspirieren lassen. Etwa wenn nach der Vorstellung der Kelten zu bestimmten Zeiten im Jahreskreis – den Mondfesten – die Vorhänge zur Anderswelt, der Welt der Geister und Verstorbenen, dünn wird. Oder, wenn „hell“seherische Menschen Zeichen in der Natur und dadurch ihr Innerstes und das der Welt erkennen. Und auch hier zur Klarstellung: Hellseher sind für mich einfach Menschen, die eine besonders offene und feine Wahrnehmungsfähigkeit haben. Wenn wir uns in der Natur erkennen, entdecken wir, dass wir nichts anderes als Natur sind und alles letztlich Eins ist und demselben Rhythmen folgt. Immer und immer wieder.
Der keltische Geist war weder rationalistisch, noch systematisch. Er war frei von jeder Dualität und Trennung, sondern begriff den Mensch, die Natur, eine höhere Kraft oder Göttlichkeit und die innere und äußere Unter- oder Schattenwelt als Eins. Der keltische Geist trennte nicht zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, Zeit und Ewigkeit, Menschlichem und Göttlichem. Die Kelten begegneten einem solchen Gefühl des Getrenntseins mit dem gefühlsmäßigen Wissen der verbindenden Kraft der Freundschaft. Es geht hier um vor allem um Freundschaft mit sich selbst und der Natur, was letztlich für die Kelten dasselbe ist. Diese Freundschaft konnte Andersartigkeit, Ambivalenz und Widerspruch aushalten und war geprägt von Symbolismus und Phantasie.
Wie bei den meisten indigenen Naturvölkern galt bei den Kelten und Germanen alles als beseelt und heilig (Animismus), nicht nur die Pflanzen und Bäume, sondern auch die Erde, die Steine, Flüsse und Bäche – die gesamte Landschaft. Es gab unzählige Naturgottheiten und eine Vielzahl an besonderen Kraftorten, wie Quellen und Bäche, Höhlen, besondere Bäume oder Felsen. Die Kelten und Germanen verehrten ihre Götter nicht in Monumentalbauten, sondern in der Natur. Jeder Stamm hatte seinen heiligen Hain (Nemeton), für den häufig besondere Verhaltensregeln galten und wo man dem Göttlichen ganz konkret begegnen konnte. Auch Tiere hatten häufig eine besondere symbolische Bedeutung und waren Gefährten, Ratgeber und Lehrer für Kelten (Totemismus). Viele Gottheiten konnten die Gestalt von Tieren annehmen und so ihre Symbolkraft verkörpern.
Für die Kelten war das Sichtbare und das Unsichtbare Eins. Die Luft – der Osten ist der Ort des Unsichtbaren, des Spirituellen, der Seele. Alles, was in der Welt der Seele ist, sehnt sich danach in einen Ausdruck zu kommen und eine sichtbare Form im Süden zu finden. Tanz und Gesang sind Beispiele dafür. Die Natur ist der unmittelbarste Ausdruck einer göttlichen Vorstellungskraft. In ihr kommt der Schönheitssinn einer göttlichen Kraft zum Ausdruck – eine Schönheit, die so schön ist, dass es manchmal schon schmerzt. Die keltischen Stammeskulturen sind mit ihren heiligen Orten und ihrer Vorstellung einer beseelten und belebten Welt ein wunderbares Vorbild, wie das Sichtbare und das Unsichtbare in unserer Wahrnehmung auseinander hervor- und ineinander übergehen kann.
Wir können von unseren keltischen Vorfahren lernen, die in unserer Gesellschaft dominierenden Nord-Qualitäten im Jahreskreis von Intellekt und Wissen in eine gute Balance zu bringen mit den Ost- und Süd-Qualitäten einer sinnlichen und körperlichen Natur-Spiritualität. Wir können uns dabei vom keltischen Jahreskreis inspirieren lassen, wie er heute überliefert ist und dürfen uns dabei die Freiheit nehmen, einen für uns fühlbaren und stimmigen Weg zu mehr Ganzheit und Eins-sein zu finden.
Und wenn du ganz tief in dich reinspürst, dann kannst du vielleicht merken, dass die Naturspiritualität und Naturverbundenheit unserer keltischen Vorfahren auch noch in dir steckt.
Der keltische Jahreskreis als Spiegel und Kompass der inneren Landschaften
Was bringt dir ein Lebensrad, wie der keltische Jahreskreis?
Der Keltische Lebenskreis ist wie alle Lebensräder ein Modell, dass die Komplexität des Lebens und seiner Rhythmen vereinfacht. Lebensräder können als Spiegel dienen, für die verschiedenen Prozesse, die dem universellen Kreislauf im Rhythmus von Entstehen und Vergehen folgen. Dadurch können wir erkennen, wo wir gerade in dem Prozess, in unserem Leben stehen. Der Jahreskreis gibt uns Erkenntnis und Orientierung. Die Bezeichnung als Lebens-Kompass (Ursula Seghezzi) finde ich daher sehr passend. Wir können uns immer wieder im Jahreskreis verorten. So können wir in all der Komplexität und den Schwierigkeiten des Lebens nicht verloren gehen. Der Jahreskreis gibt uns Sicherheit. Und nicht nur das. Er kann uns auch Vertrauen und Gelassenheit, gerade in schwierigen Phasen geben. Im ewigen Kreislauf können wir darauf vertrauen, dass sich das Rad weiterdreht. Es gibt keinen ewigen Stillstand. Nach dem Winter kommt der Frühling. Nach der Dunkelheit das Licht. Nach der Nacht kommt der Morgen. Das ist sicher! Ja und selbst für unsere letzte Station auf dieser Erde kann uns der Jahreskreis Trost spenden. Denn wir können sicher sein, dass sich auch hier das Rad weiterdreht. Aus der reifen Frucht wird nach dem Tod der Samen. Nichts verschwindet für immer, alles verwandelt sich nur in etwas anderes. Auch wenn wir nicht genau wissen, was passiert, darauf können wir vertrauen. Und dieses Vertrauen kann uns die Angst vor dem Unbekannten mildern.
Das Bild vom Lebens-Kompass finde ich auch deswegen schön, weil es uns auch ins Handeln bringen kann. Er bringt Klarheit, über das, was zu tun ist. Wir wissen nicht nur, wo in unserer inneren Landschaft wir stehen, sondern wir können auch erkennen, wohin wir müssen. Im Jahresrad können wir ablesen, welchen Schritt wir nun gehen müssen, um weiter zu kommen, um zu wachsen, aufzublühen, zu reifen oder loszulassen, um neu zu beginnen. Der Lebens-Kompass hilft uns, uns bei all der ständigen Veränderungen im Leben wieder auszurichten, damit wir in die Richtung gehen können, die es nun braucht. Schon die Buddhisten erkannten, dass es sehr herausfordernd sein kann, dass sich alles im Leben ständig verändert und nichts auch nur eine Sekunde gleich bleibt (Prinzip von Anicca – Veränderlichkeit). Das kann sich sehr verunsichernd anfühlen. Der Lebens-Kompass kann uns hier helfen, Orientierung und damit Sicherheit zu finden.
Der Kreislauf der Jahreszeiten den der Keltische Jahreskreis beschreibt, spiegelt unsere menschliche Entwicklung bezogen auf das ganze Leben – von der Geburt bis zum Tod. Der Jahreskreis spiegelt aber auch unsere vielfältigen inneren Landschaften – bezogen auf einzelne Lebens-, Entwicklung-, Veränderungs- und Wachstumsprozesse. Und sogar im ganz Kleinen können wir entdecken, dass unsere tagtäglichen Stimmungslagen einem inneren Frühling, Sommer, Herbst oder Winter entsprechen. Gleiches gilt für den weiblichen Menstruationszyklus, wo die Phase bis zum Eisprung, die Follikelphase unser innerer Frühling, der Eisprung der Sommer, die darauf folgende Lutealphase der Herbst und die Menstruation der Winter ist. Die Parallelen und Einsatzbereiche sind unglaublich vielfältig. Der Keltische Jahreskreis kann beispielsweise auch als Rad der Kreativität genutzt werden und die Phasen des kreativen Schaffens- oder Lernprozesses beschreiben. So gestalten auch die wildnispädagogischen Wildnisschulen nach dem Vorbild von solchen Rädern und Kreisläufen Lernräume für die persönliche Entwicklung. Selbst mein Lauf-Training folgt immer und immer wieder dem Rhythmus des Rades, von Motivation, Aktion und Regeneration.
Auch das gibt Vertrauen und Sicherheit: Mit der Zeit erfahren wir, dass der ewige Rhythmus von Entstehen und Vergehen sich ständig wiederholt und in ganz vielen Bereichen wirksam ist. Dadurch kann Verbindung und ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einem größeren Ganzen, dem Netz des Lebens entstehen. Die Rückbindung an den natürlichen Rhythmus des Lebens hat in der modernen Welt zwar nicht mehr die gleiche Dringlichkeit, wie für unsere Vorfahren, deren Überleben davon abhing. Vielleicht hat es aber nicht viel an Dringlichkeit eingebüßt. Denn in unserer modernen Welt voller Entfremdung und seelischer Verarmung, sichert die Rückbindung an den natürlichen Kreislauf das Überleben unserer Seele. Wir können wieder im Einklang mit dem universellen Rhythmus des Lebens leben, der auch unser eigener Lebensrhythmus ist. Wir können heimisch werden auf dieser Welt. Eingebettet in den ewigen Kreislauf wiegt uns der Rhythmus des Lebens – auf und ab und auf und ab.
Naturverbindung – Zurück zu unseren europäischen Wurzeln
Was das Thema Naturspiritualität und Naturverbundenheit angeht, gibt es viele gute Anregungen und Impulse, die sich in allen Kulturen rund um den Globus finden. Wie es schon immer das Wesen des Menschen war, können wir selbstverständlich von anderen Kulturen lernen. In unserer heutigen modernen Zeit sind dies vor allem die noch lebenden Nachfahren der letzten indigenen und naturverbundenen Stammeskulturen in Nord- und Südamerika, Afrika, Asien und Australien.
Warum aber, macht es großen Sinn, dabei nicht die eigenen europäischen Wurzeln zu vergessen?
Lebensräder wie der keltische Jahreskreis sind der Ausdruck konkreter Naturerfahrung in kulturell gefasste Bilder (Ursula Seghezzi, Der Lebenskompass). Es gibt einen unbestreitbaren Zusammenhang zwischen Natur und Kultur. Menschen und ihre Kultur sind geprägt von der Landschaft, in der sie wohnen und deren klimatischen und jahreszeitlichen Besonderheiten, den einheimischen Pflanzen und Lebewesen. Wenn man sich das klar macht, versteht man auch, warum sich viele Lebensräder voneinander unterscheiden, auch wenn der universelle Rhythmus von Entstehen und Vergehen immer gleich bleibt. So ordnen manche Räder das Element Feuer dem Sommer und manche dem Herbst oder Frühling zu. Gleiches gilt für das Element Wasser. Auch die Zuordnung der Zeitqualitäten und der Menschheitsphasen unterscheiden sich teilweise im Detail. Was gleich bleibt ist aber die Funktion und Bedeutung, die solche Lebensräder für uns Menschen haben können. Sie sind Modelle, Vereinfachungen der Komplexität des Lebens, die uns Orientierung, Vertrauen und eine Rückbindung an die Natur geben.
Auch unsere keltischen Vorfahren, ihre Götter und Geschichten, ihre Wahrnehmung von der Welt waren zutiefst geprägt von der Landschaft, dem Klima, den Pflanzen und Lebewesen in Mitteleuropa. Wenn es in unserer modernen Welt bei der Verwendung von Lebensrädern vor allem um eine Rückbindung an die Natur und die natürlichen Kreisläufe des Lebens geht, dann macht es Sinn sich an Lebensrädern zu orientieren, die die Bild- und Symbolsprache unserer Vorfahren und der natürlichen Umgebung, in der wir leben, sprechen. Die Bild- und Symbolsprache unserer keltischen Vorfahren ist vermutlich noch tief gespeichert in unserem Körper, unserem Geist und unserer Seele.
Der Keltische Jahreskreis ist ein europäisches Medizinrad. Er orientiert sich an der europäischen Landschaft und am europäischen Kulturgut, auch wenn wir um die Ungenauigkeiten in der Überlieferung wissen. Denn den einen keltischen Jahreskreis gibt es nicht. Wir müssen selbst Verantwortung für uns übernehmen. Wenn wir den Keltischen Jahreskreis leben, geht es nicht um ein schematisches oder dogmatische Abarbeiten von vermeintlich feststehenden und genau zu beachtenden Vorgaben. Wir müssen immer selbst spüren und erfahren und beobachten, wo uns der Weg hinführt.
Gleichgewicht und Polarität im achtspeichigen Rad
Die Jahreskreisfeste entstanden aus dem Leben in der Natur und der genauen Beobachtung der natürlichen Vorgänge und des Verlaufs der Sonne und der Himmelskörper. Der keltische Jahreskreis setzt sich aus insgesamt acht Festen im Jahresverlauf zusammen, die sich an den Jahreszeiten und dem Verlauf der Himmelskörper im Jahresverlauf orientieren. Die Feste liegen sich im Jahreskreis jeweils gegenüber und bilden so ein achtspeichiges Rad. Dadurch drückt sich auch eine gewisse Polarität im Jahreskreis aus, in der sich gegensätzliche Kräfte – Leere und Fülle, Entstehen und Vergehen, Wachstum und Rückzug, Aktivität und Stillstand – über den Jahreslauf gesehen wieder in einem Gleichgewicht miteinander finden.
Sonnen- und Mondfeste
Im Jahreskreis der Kelten sind vier Sonnenfeste fest durch den Verlauf der Sonne auf der Nordhalbkugel vorgegeben: die Sonnenwenden im Sommer (längster Tag und kürzeste Nacht) und Winter (längste Nacht und kürzester Tag) und die Tag- und Nachtgleichen im Frühling und Herbst. Sie kennzeichnen den Höhepunkt der jeweiligen Jahreszeit und zugleich einen Wendepunkt. Durch sie entsteht das keltische Kreuz im Jahreskreis.
Zwischen diesen Festen liegen vier Mondfeste, die früher zu einem bestimmten Voll- bzw. Neumond im Jahr gefeiert wurden. Mit der Einführung des römischen Kalenders und der Christianisierung der vor-christlichen Bräuche der Kelten, wurden die Mondfeste auf einen bestimmten Kalendertag festgelegt. Die Mond-Feste wurden je zu Ehren eines Götterpaares gefeiert. Dieses Gottheiten übernahmen an dem Fest die Vorherrschaft über den Zeit-Raum bis zum nächsten Mondfest. Die Kelten nannten diesen Zeitraum das Reich der jeweiligen Gottheit. Jede dieser Gottheiten verkörpert die natürliche Zeitqualität im Jahresverlauf. Häufig sind sie eng verbunden mit bestimmten Tieren oder jahreszeitlichen Pflanzen.
Jahreskreisfeste im Überblick
Der Jahreskreis lässt sich in Orientierung an die Lichtverhältnissen im Jahresverlauf in eine dunkle und eine helle Seite einteilen. Für die Kelten begann das Jahr und auch der Tag (als Einheit von Tag und Nacht) jeweils mit der dunklen Hälfte, dem Herbst oder der Dämmerung. Das keltische Jahr startet daher Anfang November mit dem Mondfest Samhain zu Ehren des Totengottes Samhain und der schwarzen Göttin Morrigan. Es wurde als einziges der vier Mondfeste zum Neumond gefeiert, dem Neumond, der der Herbst-Tag und Nachtgleiche am nächsten ist. Die anderen drei Mondfeste wurden jeweils zum Vollmond gefeiert. Die Wintersonnenwende ist die dunkelste Nacht, in der die Geburt des Lichts, des Sonnengottes gefeiert wird. Die Zeit zwischen den Jahren – die Rauhnächte – diente der Angleichung des Sonnen- und des Mondkalenders. In diesen besonderen Nächten stand alles still. Es ist eine Zeit für Reflexion. Zum Februar-Vollmond übernimmt die weiße Göttin Brighid mit ihrem Bären die Herrschaft. Sie bringen das Licht zurück und erwecken die Erde zu neuem Leben. Ihr zu Ehren wird das Fest Imbolcgefeiert. Die Frühjahrs-Tag- und Nachtgleiche ist der Höhepunkt des Frühlings. Die Natur ist geprägt von Aufbruch und Wachstum. Licht und Dunkelheit sind im Gleichgewicht. Im Mai beginnt zu Beltane oder Walpurgis mit wilden und ausgelassenen Mai-Feierlichkeiten zum Mai-Vollmond die helle und warme Hälfte des Jahres. Es ist die Zeit des Sonnengottes Bel oder Belenos und seiner fruchtbaren Blumengöttin Belisama (Dana), die sich bei der heiligen Hochzeit vermählen. Die längsten Tage des Jahres und lauen Mittsommernächte laden zur Sommersonnenwende zu Freudenfeuern ein. Die Pflanzengöttin ist nun schwanger mit Früchten der Erde. Der August-Vollmond leitet mit dem Fest Lughnasad oder Lammas die Ernte-Zeit ein. Es ist die Zeit der Verwandlung. Der Fruchtbarkeitsgott Bel verbrennt bei diesem Erntefest in den heißen Augustfeuern und verwandelt sich in den feurigen und leuchtenden Gott Lugus oder Lug. Zusammen mit seiner Ernte- oder Korngöttin steht er für die Vollendung des Wachstumszyklus, für das Vergehen und das Verblühen und Versamen, das den neuen Lebenszyklus erst möglich macht. Die Herbst-Tag- und Nachtgleiche stellt den Höhepunkt der Erntezeit dar. Diese Zeit ist geprägt von Erntedankfesten und der Vorbereitung auf den kommenden Winter.
Hier sind die acht Feste im Überblick mit ihrer kalendarischen Verortung und der entsprechenden Zeitqualität:
Samhain
Neumondfest – 1. November
Ahnen, Wurzeln, Rückzug, Sterben, Loslassen
Wintersonnenwende / Jul
Sonnenfest – 21./22. Dezember:
Geburt des Lichts in der Dunkelheit, Stille, Leere, Regeneration, Hoffnung, Vertrauen
Rauhnächte
25. Dezember bis 06. Januar
Zeit zwischen den Jahren: Übergang, Grenzwanderung, Anderswelt, Rückschau und Vision
Auch heute können wir, wenn wir auf detektivische Spurensuche gehen, vieles entdecken, was keltischen oder germanischen Ursprungs ist. Keltische Weisheit, Naturspiritualität und Naturverbundenheit ist noch nicht verschwunden. Sie ist zum Teil überlagert vom Christentum und anderen Kulturen. Auch das ist nichts Negatives, sondern ist der ewige Lauf der Dinge, dass alles sich verändert und nichts gleich bleibt.
Es macht Spass, die Augen offen zu halten, nach uralten vorchristlichen Bräuchen und Ritualen. Dann können wir feststellen, dass sie uns nicht nur im Märchen begegnen. Keltisches Kulturgut und keltische Weisheit begegnet uns fast tagtäglich im Alltag – in der Sprache, der Landschaft, den (Heil-)pflanzen und Bäumen. Wir können, dass als Anlass nehmen und uns an unsere indigenen Vorfahren erinnern und daran, wie die tief verwurzelt sie waren in den Kreisläufen der Natur und des Lebens.
Quellen: Storl, Wolf Dieter: Pflanzen der Kelten; Ursula Seghezzi, Der Lebenskompass, in: Bögele/Heiten, Räder des Lebens; Kaiser, Martina: Der Jahreskreis; O’Donohue, John: Anam Cara, Das Buch der keltischen Weisheit; Das Buch der keltischen Mythen, Von Göttern, Kriegern, Feen und Druiden; Bögele, Robert / Heiten, Gesa: Räder des Lebens